70 Jahre Schlaraffia Paulista

Eine paulistaner Plauderei (323) von Rudolf Robert Hinner

Das vielgestaltige Panorama der deutschsprachigen Körperschaften erhielt in den letzten Jahren eine neue Facette durch die Errichtung der neuen Ranchoburg der Schlaraffia Paulista.

Paulista BurgHatte das hohe Reych Paulista durch lange Zeit in den Räumlichkeiten des alten Clubs Transatlântico und in der Österreich-Brasilianischen Kulturgesellschaft Babenberg seine Sippungen veranstaltet, konnte es auf einem eigenen Grundstück von 300 Quadratmetern im Jardim Promissão in Santo Amaro eine echte, wehrhafte Ritterburg mit zinnengekröntem Söller errichten. Das markante Bauwerk ist eine Gemeinschaftsarbeit des ganzen Reyches. Planung und Ausführung des imposanten Gebäudes würden von der bekannten Baufirma des Architekten Gerhard Gerigk vorgenommen.

Im Jardim Promissão hat man sich an die Paulistaburg gewöhnt, aus deren Gemäuer jeden Mittwoch abends männlich-rauhe Lieder erschallen. Nur wenige halten sie noch für die Kirche einer seltsamen religiösen Sekte. Die Schlaraffen folgen dem Motto "IN ARTE VOLUPTAS" und gehören einem Weltbund an, der unter einem mittelalterlichen Zeremoniell Kunst, Freundschaft und Humor pflegt. Gespräche über Religion, Politik und Geschäft sind tabu.

70 Jahrungen Paulista

Im Jahre 1929, das der schlaraffischen Zeitrechnung des Anno Uhui 70 entspricht, entstand das hohe Reych Paulista dank der Initiative ehemaliger k.u.k österr. ungarischer Offiziere, die das Schicksal nach Brasilien verschlagen hatte, wobei das hohe Reych Juvavia (Salzburg) die Patenschaft übernahm. Die hohe Vindobona entsandte eigens den legendären Ritter Wiking gen São Paulo, um die Sanktionsfeyer zu zelebrieren.

Die erste Ranchoburg befand sich auf der Rua Santo Antonio 142. Nach 10 bewegten Jahrungen musste das Reych Paulista seine Pforten schließen.

Ab 1957 begannen Schlaraffen, die infolge des politischen und militärischen Geschehens in Europa Zuflucht in Brasilien gesucht hatten,. das hohe Reych Paulista wieder zu gründen. Unter ihnen ist dem Arzt Dr. Karl Fried (Ritter Schlarimbin der Straußenzüchter) das Hauptverdienst an der Neugründung zuzuschreiben.

Im Laufe der Jahrungen war das hohe Reych Paulista vielen aus Kunst und Literatur bekannten Persönlichkeiten Heim und Hort. Man denke an den Schriftsteller und Regisseur B. A. Aust, den akad. Maler Prof. Karl Schuster -Winkelhof, den Arzt und Dichter Dr. Alexander Lenart, dem wir das kluge und unterhaltsame Buch "Die Kuh auf dem Bast" verdanken. Der Kärntner Schriftsteller und Journalist Paul Hatheyer, sollte als Erbherrlichkeit Mutwill van der Soafen eine überragende Rolle zu Paulista spielen.

Bleibende Präsenz im Reyche Paulista erwarb sich der Schöpfer zarter und strahlungskräftiger Blumenbilder, Karl Klanke. Er wurde im Alter von etwa 50 Jakrungen zum Ritter "Carliostro der Blumenzauberer" geschlagen. Klanke war ein stiller Hannoveraner, der noch in der Zeit von Carl Valentin, Fritzi Massary, Peter Altenberg, Frank Wedekind und Joachim Ringelnatz lebte und gerne vom Kabarett und "Überbrettl" erzählte. In monatelanger Arbeit schuf Carliostro eine Reihe großer Gemälde schlaraffischer Motive, die in der neuen Ranchoburg die Wände des Rittersaales bedecken. Außer der Absicht, die schlaraffischen Ideale von Kunst, Freundschaft und Humor visuell zu symbolisieren, wollte Carliostro die Wiedergründer ehren, indem er die Wappen ihrer in der Mehrzahl versunkenen Heimatreyche nachschuf.

Der Rittersaal

Wenn man zu Paulista einreitet, sich nach links gewendet und vor dem Uhu verbeugt hat, entdeckt man hinter dem Symbol des Schutzherrn der Schlaraffia eine photographische Komposition, Werk der weyland Ritter Tintenfisch und Capitan (der Brüder Mielenhausen). Sie stellt die Gründungsritter und ersten Jahrgänge der Paulistaritter dar.
Darunter der geschlossene Ahallaschrein, der die Portraits der verstorbenen Uhubrüder birgt und nur bei Ahallafeyern geöffnet wird.
An den Tafeln der Ritter und Junker vorbei, fällt der Blick auf den ehrwürdigen Thron, von dem das Triumvirat der Herrlichkeiten das Sippungsgeschehen leitet. Unter dem Baldachorum ein holzgeschnitztes Wappen mit der schreitenden Onça des hohen Reyches Paulista.
Rechts vom Throne befindet sich der angestammte Sitz Seiner Vieledlen, des Kantzellars. An der Wand das Gemälde eines geschnitzten Aktenschrankes mit der Inschrift A.D. 1605.

Bei der Ausführung seiner schlaraffischen Bilder bediente sich Carliostro mythischer und ritterlicher Motive von Albrecht Dürer und Arnold Böcklin. Ein knorriger Baum mit austreibenden Blüten am Bergeshang versinnbildlicht den Stammbaum des hohen Reyches Paulista. Ausgehend von der Allmutter Praga, über die Reyche Berolina, Lipsia, Wratislavia, Colonia Agrippina, Stuttgardia, Monachia und Juvavia führt ,diese Lebenslinie zum Reych der Paulistaner. Die Wappen der genannten Reyche sind getreulich dargestellt.

Böcklin nachempfunden ist ein großes Bild, das schemenhaft grau den Weg eines Ritters zu Ross auf schwankendem Nachen über den Acheron, den Fluss der Unterwelt, zeigt. Im Hintergrund erleuchtet die sinkende Sonne drohende Wolken am Himmel. Im Vordergrund eine verlöschende Fackel, das zu Ende gehende Leben symbolisierend und die Namenstafel der Ahallaritter jener Epoche. Der zweite Teil der Darstellung gibt den Blick zum Tor frei, das zu Ahallas lichten Höhen führt. Im Vordergrund die Fortsetzung der Rollen der Ahallaritter unter den forschenden Blicken des allweisen Uhu.

Dürers Bilder gepanzerter und berittener Helden inspirierten Carliostro zu seinem "Ritter zu Pferde". Der Kupferstich "Ritter, Tod und Teufel" (1513) dürfte als Vorlage gedient haben. Statt der Lanze hält der paulistaner Panzerreiter eine Fahne in der Hand.
"Junker Jörg" nennen die Paulistaner einen eleganten, gespornten Edelmann in leichtgepanzertem Koller, der lässig eine Fahne in den Reychsfarben in der Hand hält Das Original befindet sich am rechten Flügel von Dürers Paumgartner-Alter (um 1503) und stellt den Hl. Eustachius dar für den Lucas Paumgartner selbst Modell gestanden hat. Das Original trägt indessen eine Fahne mit einem Hubertus-Motiv.

Des Reyches Marschall hat seinen angestammten Platz zur Linken des Thrones. An seiner Seite das gewaltige Tamtam, der Gong, mit dem er bedeutende Phasen der Sippung lautstark ankündigt. Oberhalb seines Hauptes zeigt ein Gemälde dicke Burgmauern, einen gerafften Vorhang, der den Blick durch ein vergittertes Fenster gestattet. In der Ferne eine türmreiche Burg. Auf einem Vorsprung ein stattlicher Leuchter mit einer eben erloschenen Kerze.

Anschließend die Gestalt eines glänzend-schwarzen Ritters in voller Rüstung, mit geschlossenem Visier, der eben aus einem Verlies zu treten scheint. Auf der Brust und dem halb gesenkten Schilde die Figur eines flügelschlagenden Uhus. In der Rechten locker eine Hellebarde. An der Wand das blau-gelbe Wappen der Allmutter Praga etwas kleiner das gelbgrüne Wappen der hohen Paulista mit der schreitenden Onça, das Banner der Allschlaraffia vom steil aufgerichteten Schweife wehend.

Zur Ehre und Erinnerung an die Wiedergründer des hohen Reyches Paulista schuf Carliostro die Wappen ihrer Heimatreyche nach. Das rot-weiße Wappen des nicht mehr bestehenden Reyches Wratislavia (Breslau) aus dem die Ritter Schlarimbin (Dr.Karl Fried) und Säg-Scheit (Konrad Körner) kamen. Das blau-weiß-rote Wappen der hohen Regismontana (Königsberg i.Pr.) dessen Kantischer Imperativburg der Zinkenmeister Kahleborn (Maestro Philippi) entstammte. Der rot-weiße schreitende und schwertbewehrte Löwe der hohen Tarimundis (Darmstadt), der schlaraffischen Heimat des Ritters Celluxus (Bruno Herzberg), das rot-weißgelb des weyland Reyches Olavia (Ohlau in Schlesien) des R. Musselino (A. Glogowski) und schließlich in Rot und Silber das Wappen der hohen Confluentia (Koblenz), das an einen weiteren Mitgründer erinnert, der als Knappe aus Deutschland hier zur Schlaraffia stieß und später zum Ritter "Don Paolo vom Deutschen Eck" (Karl-Heinz Wiebach) in einem nordamerikanischen Reych geschlagen wurde. Mitten unter diesen martialischen Rittern hat Carliostro seine Interpretation einer von Dürers liebenswürdigsten Federzeichnungen gestellt, die uns als "junges Paar" überliefert wurde. Das Mädchen zu Ross, der Jüngling, wahrscheinlich Dürer selbst, bloßen Hauptes daneben, tändelnd und scherzend. An Lanzen, Hellebarden und zwei gekreuzten Fahnen vorbei, geht der Weg zum Burgverlies und dem Klavizymbel, der Klanggülle aller Schlaraffenlieder. Die Rostra Der Ring schließt sich an der Rostra, dem Rednerpult, die des Schlaraffen, dem Reych zur Freud' und sich selbst zur Ehr' bevorzugter Platz sein soll. Denn Schlaraffia lebt vom mitmachen, obwohl man mit der gewaltigen Schere rechnen muss, die den Faden allzu langer Rede abschneidet. Die Themen der 31 Sippungen dieser Jahrung umfassen die verschiedensten Gebiete: man gedachte Goethes, des Vasco da Gama, sprach über Berthold Brecht, Hoffmann von Fallersleben, Conrad Ferdinand Meyer, Theodor Fontane und ließ Witz und Geist sprühen. Funken sprühten allerdings auch bei mehreren Duellen mit geistig geschärften Waffen. Noch ist die hohe Paulista kein kulinarisches Schlaraffenland. Das erst kürzlich fertiggestellte Restaurant harrt eines Pächters und Wirtes. Als echter Maecenas Schlaraffiae lud der edle Junker Wolfgang anlässlich seiner Standeserhöhung zusammen mit seiner charmanten Burgfrau die Sassen und Damen des Reyches zu einer opulenten Feijoada -Krystalline, bei der Atzung und Labung dankbar zugesprochen wurde.

Herausgegeben in der Deutschen Zeitung, São Paulo, 18. September 1998 
© Dr. Rudolf Robert Hinner (Rt Moravist von Bobbylonien)