Die Schlaraffia Paulista

Einmal in der Woche trifft sich in São Paulo, nämlich in Santo Amaro, ein Kreis von Freunden, der in lustiger Runde die deutsche Sprache pflegt und an Kunst und Humor seine Freude hat. Die Teilnehmer sind Mitglieder des weltweiten Bundes "Schlaraffia".
Die Schlaraffia will mit viel heiterer Selbstironie die zur Ritterszeit herrschenden Verhältnisse kultivieren. Daraus haben die Ur-Gründer im Jahre 1859 zu Prag ein Spiel erfunden, das nicht nur Figuren und Gebräuche der damaligen Zeit widerspiegelt, sondern auch altdeutsche Floskeln und Worte in seinen Wortschatz aufgenommen hat. So bedeutet das "Reych" die Gemeinschaft aller Mitglieder.

Jedes Reych hat seinen Tagungsort, die "Burg". Die Zusammenkunft heißt "Sippung", zu der die "Sassen" (Mitglieder) "einreiten", um an der Sippung teilzunehmen. Die Sassenschaft besteht aus Knappen, Junkern und Rittern. "Pilger" sind profane Besucher und "Prüflinge" Anwärter auf die Sassenschaft. Das alles dient dazu, um diesen regelmäßigen Zusammenkünften eine entspannte, fröhliche Atmosphäre zu verleihen, in welcher die Gruppe, die überwiegend aus Amateuren besteht, ihr Spiel mit viel Humor der Pflege von Kunst und Freundschaft widmet.

70 Jahre nach der Gründung der Allschlaraffia, oder im Jahre 1929 der profanen Zeitrechnung, trafen sich die österreichischen Ritter Africarry (Major a.D.Karl Venuleth), Hrimfaxi(Hauptmann a.D. Hugo Weingraber) und Arabicus (Ing.Ewald von Becker) und beschlossen, das erste Schlaraffenreych in Brasilien zu gründen. Nach wenigen Monaten war die erforderliche Anzahl von Gründungsrittern (Erzschlaraffen) vereint, zum Mutterreych die hohen Juvavia (Salzburg) erkürt und in kurzer Folge konnte die Coloneygründung und Reychserhebung stattfinden, wobei Rt. Wiking der hohen Vindobona als Legat der Allmutter Praga fungierte.

Das junge Reych erlitt unmittelbar eine schwere Erschütterung durch das Ableben seines Gründers, Rt. Africarry. Ein Jahr später traf in São Paulo ein ehemaliger hochverdienter Oberschlaraffe des Reyches Claudium Forum (Klagenfurt) ein, der Rt.Mutwill (Ing. Paul Hatheyer) unter dessen stabilisierender Leitung der Paulista während weniger Jahre fröhliche Sippungen in ihrer Ranchoburg auf der Rua Santo Antonio 142 beschieden waren. Noch vor dem 2. Weltkrieg mußte das Reych seine Tätigkeit einstellen und erwachte erst zu neuem Leben, als der Krieg vorbei und eine deutsche Vereinstätigkeit wieder möglich war.

Zwischen 1935 und 1940 waren mehrere Schlaraffen aus Deutschland nach Brasilien gekommen, nämlich die Ritter Schlarimbin (Dr. Karl Fried) und Säg'scheit (Dipl. Ing. Conrad Körner) aus der Wratslavia (Breslau), Celluxus (Bruno Herzberg) aus der Tarimundis (Dortmund), Musselino (Ludwig Gloger) aus der Olavia (Ohlau)und Kahleborn (Maestro Fritz Philippi) aus der Regismontana (Königsberg).Dazu gesellten sich neue Ankömmlinge, weitere Schlaraffen und Schlaraffensöhne, so daß ein bescheidener Wiederanfang der schlaraffischen Tätigkeit möglich war.

1952 kam es infolge einer Zeitungsannonce zu einem Zusammentreffen von Sassen der neuen mit Rittern der alten Paulista im Restaurant "Ao Franciscano", nämlich den Rt. Mutwill und Faraday (Max Führer). Von da an ging es mit der Paulista aufwärts. Anno Uhui 100 (1959) zählte das Reych 57 Sassen und konnte zur Gründung zweier Tochterreyche, Rio Carioca und Porta Alegrensis, beitragen.

Inzwischen vergingen Jahrzehnte, während denen das Reych seine Jahrung stets mit einem schneidigen Reiterlied der inzwischen "gen Ahall gerittenen" Rt.Schlarimbin und Kahleborn einleitet. In 2050 Sippungen, die den verschiedensten Themen gewidmet waren, erlebte die Paulista eine große Zahl von Gruppeneinritten aus europäischen, nord- und südamerikanischen Reychen, großartige Feste und gar blutige Fehden mit geistig geschärften Waffen mit anderen Reychen des Landesverbandes Lateinamerika.

Die Burgfrage war lange eines der großen Probleme der Paulista. Man sippte zunächst in verschiedenen Lokalen, dann viele Jahre im alten "Club Transatlãntico" und in der Österr.-Bras. Gesellschaft "Babenberg". Vor 20 Jahren wurde der Beschluß gefaßt, im Jardim Promissão in Santo Amaro ein Grundstück zu erwerben und unter großen finanziellen Opfern eine eigene wehrhafte Burg, mit Rittersaal, Turm und Söller zu errichten. Die Initiative dazu ging von den damaligen Oberschlaraffen Rt. Quant (Gerhard Sielaff) und Knurrhahn (A.W.Leoni) aus. Sie wurde vom ganzen Reych begeistert unterstützt. Später konnte man noch das Nachbargrundstück als "Sattelplatz für die Stinkrösser" erwerben.

Im Laufe der Jahrungen war das hohe Reych Paulista vielen aus Wissenschaft, Kunst und Literatur bekannten Persönlichkeiten Heim und Hort. Man denke an den Dramaturgen und Schriftsteller B. A. Aust (Rt. Tingeltangelus Silesius), den Pionier der Strahlenheilkunde Dr. Karl Fried (Rt. Schlarimbin), den akad. Maler Prof. Karl Schuster-Winkelhof (Rt. Schau-Schau), den Bildhauer und Graveur Löhs (Rt. Nykusserl), den Arzt, Musiker, Dichter und Zeichner Dr. Alexander Lenard (Rt. Bachstelzer), dem wir die klugen und unterhaltsamen Bücher "Die Kuh auf dem Bast", "Die römische Küche", "7 Tage Babylonisch", "Der Tag im unsichtbaren Haus" die Übersetzung von Milnes "Winnie the Poo" (Winni Ille Pu) und ' Françoise Sagan "Bon Jouf Tristesse" ins Lateinische verdanken. Er wurde nach seinem Ableben in den Rang eines Ehrenschlaraffen erhoben. Bleibende Präsenz im Reyche Paulista erwarb sich der Schöpfer zarter und strahlungskräftiger Blumenbilder Karl Klanke (Rt. Carliostro der Blumenzauberer), der in monatelanger Arbeit eine Reihe großer Gemälde schlaraffischer Motive schuf, die die Wände des Rittersaales zieren.

Böcklin nachempfunden ist ein großes Bild, auf dem schemengleich der Weg eines Ritters in schwankendem Nachen über den Acheron zu sehen ist. Im Vordergrund die verlöschende Fackel, das zu Ende gehende Leben symbolisierend. Daneben die Rollen mit den Namen der "gen Ahall" gerittenen Sassen unter den forschenden Blicken des allweisen Uhu. Einen eleganten, gespornten Edelmann im leicht gepanzerten Koller nennen die Paulistaner den "Junker Jörg", der lässig eine Fahne in den Reychsfarben in der Hand hält. Daneben ein Panzerreiter im Stile Dürers. Gegenüber die Gestalt eines glänzend schwarzen Ritters in voller Rüstung, mit geschlossenem Visier, der eben aus einem Verlies zu treten scheint. Auf der Brust und dem halb gesenkten Schilde die Figur eines flügelschlagenden Uhus. An der Wand das blaugelbe Wappen der Allmutter Praga und das gelbgrüne Wappen mit der schreitenden Onça der hohen Paulista. Unter den martialischen Rittern das liebenswürdige Bild eines Mädchens zu Roß und daneben ein Jüngling, wahrscheinlich Dürer selbst, bloßen Hauptes, tändelnd und scherzend. An Hellebarden, Schwertern, dem Burgverlies und dem Clavizymbel, wie die Schlaraffen das Klavier nennen, vorbei geht es zur Klause des Styx, dem die Bewirtung der Sassen obliegt.

Herausgegeben in der Brasil Post, São Paulo, 7. September 2007
© Dr. Rudolf Robert Hinner (Rt Moravist von Bobbylonien)